Das Rätsel des Schönen

Der Einstieg

Noch einmal die Frage: Was ist schön? Subjektiv können wir meist genau beschreiben, was wir als schön, harmonisch oder angenehm empfinden. Es können tote Gegenstände oder auch Lebewesen wie Pflanzen, Tiere und Menschen als schön bezeichnet werden. Aber auch nicht-materiellen Erscheinungen wie Gedankengängen, Empfindungen, Taten und Geschehnissen werden diese Eigenschaft zugeschrieben. Trotz der meist klaren Empfindung, ob etwas schön oder hässlich ist, kommen wir schnell in Erklärungsnot, wenn wir formulieren sollen, warum etwas schön ist. Es scheint als ist der Schönheit nichts Allgemeingültiges oder Absolutes zu entnehmen.

Goethe äußerte sich zum Mysterium des Schönen einmal mit den Worten: » Das Schöne ist eine Manifestation geheimer Naturgesetze, ... « (Goethe) Wenn ein solcher Satz nicht aus der Feder eines Dichterfürsten käme, würde er sicherlich auf heftigste Proteste stoßen. Die Aussage würde wahrscheinlich noch nicht einmal ernst genommen werden. Das Zusammendenken von Schönheit und Naturgesetzen scheint absurd. Was hat das objektive Naturgesetz mit dem subjektiven Schönheitsempfinden gemeinsam? Der individuell-emotionale Begriff des Schönen scheint unvereinbar mit dem sachlich-wissenschaftlichen Charakter eines Naturgesetzes. Verstehen wir doch unter dem Schönen eine subjektive Empfindung, die nichts mit den emotionslosen wissenschaftlichen Regeln oder Gesetzmäßigkeiten zu tun hat. Das Abstrahieren von allem Persönlichen ist ja gerade der Preis jeglicher Wissenschaftlichkeit, der notwendig scheint, wenn wir versuchen, die Natur objektiv zu beschreiben. Die beiden Begriffe Schönheit und Naturgesetz scheinen einander entgegenzustehen wie die Pole Feuer und Wasser, hell und dunkel, Rationalität und Irrationalität, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Es ist jedoch offensichtlich die Leistung großer Geister, das vermeintlich Unvereinbare zusammenzudenken. Mehr als zwei tausend Jahre vor Goethe hat Pythagoras, der Weise von Samos, schon gerade das uns hinterlassen: »Das Gleichnis dessen, der die höchste Vernunft besitzt, ist und kann nur die Fähigkeit sein, die Beziehungen zu erkennen, die auch Dinge einen, die scheinbar keinerlei Verbindungen zueinander haben.« (Pythagoras)

Was veranlasste Goethe, diese scheinbaren Widersprüche - Naturgesetz und Schönheit - in einen direkten Zusammenhang zu stellen? Es war sicher nicht allein die Freiheit des Künstlers, denn Goethe war auch ein engagierter Naturwissenschaftler. Was haben demnach, objektiv gesehen, Naturgesetz und Schönheit gemeinsam? Findet sich auch zwischen diesen beiden Dingen ein Zusammenhang oder gar eine nachweisbare komplementäre Beziehung, und was macht sie aus? Was ist Goethes geheimes Naturgesetz, das er so selbstverständlich voraussetzt und dessen Manifestation das Schöne ist?

Um es vorweg zu nehmen: Es liegt nahe, dass der Dichterfürst sich auf die jahrtausendealten, eindrücklichen Proportionen des goldenen Schnittes bezieht, die schon immer mit der Schönheit in Verbindung gebracht wurden. Dem Mysterium der Schönheit und des goldenen Schnittes folgend, wagen wir uns ein wenig in das Niemandsland zwischen Ästhetik und Mathematik, das sich bisher rein wissenschaftlich nicht erschließen lassen, wie wir es dem Zitat Beutelspachersi entnehmen können: »Trotz vieler eindrucksvoller Beispiele und vieler theoretischer Untersuchungen wurde eine einfache rationale Erklärung für einen Zusammenhang zwischen goldenem Schnitt und Ästhetik bisher nicht gefunden.« (Beutelspacher 1995)

Der Schönheit auf der Spur

Die alten Griechen hatten auf die Frage, was Schönheit ist, eine uns einfach erscheinende Antwort: Das griechische Wort für Schönheit ist »kosmos«. Es heißt gleichzeitig aber auch Ordnung und Schmuck. Diese Bedeutung leuchtet noch im heutigen Wort »Kosmetik« auf. Alles Existierende - unsere Welt, die Natur, der Mensch, eben alle Teile des Kosmos - gehörten für die Griechen zum Schönen, da sie ein Teil der Ordnung sind. Heute erhalten wir dafür von den modernen Naturwissenschaften eine Bestätigung, zumindest teilweise, da wir wissen, dass Leben nur durch Ordnung entstehen kann. Eine Minimalisierung der Unordnung oder physikalisch ausgedrückt, die Einschränkung der Entropie (der aus physikalischer Sicht unaufhörliche Zerfall von Ordnung) ist Voraussetzung zur Entstehung von Leben. Unordnung ist lebensfeindlich. Die Medizin liefert uns zahlreiche und beeindruckende Beispiele. So führt das ungeordnete und dem Gesamtorganismus nicht mehr untergeordnete, autonome Wachstum einzelner Zellen langfristig fast immer zum Untergang des betroffenen Organs oder sogar des gesamten Lebewesens. Ein solcher pathologischer Prozess wird umgangssprachlich als Krebs bezeichnet.

Für die alten Griechen waren alle Teile des Kosmos Abbilder der Schönheit, weil sie Bestandteil einer universalen Ordnung sind. Ihre Antwort auf die Frage nach dem Schönen ergibt sich demnach direkt aus ihrem Sprachverständnis und der damaligen Weltanschauung. Doch was verstehen wir heute, mehr als zweitausend Jahre später, im Zeitalter der modernen Naturwissenschaften, unter dem Schönen?

Versuchen wir genau zu beschreiben, was Schönheit ist oder welche Eigenschaften Schönheit ausmachen, kommen wir schnell in Erklärungsnot, da wir diesen Begriff scheinbar nicht auf irgendwelche einfachen Parameter reduzieren können. Dies ist vor allem deswegen so, da Schönheit, wie schon erwähnt, etwas mit dem subjektiven Empfinden zu tun hat und sich somit scheinbar einer objektiven Analyse entzieht. Subjektive Emotionen lassen sich nicht vereinheitlichen oder bewerten. Es verhält sich ähnlich wie mit dem Geschmack, der sich einer objektiven Beurteilung entzieht. Und über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten. Es fällt schwer, einheitliche Bewertungskriterien in Bezug auf das Schöne zu finden, da die individuellen Empfindungen von Mensch zu Mensch stark differieren. Meist gibt es zwar bestimmte Schönheitsideale in den verschiedenen Bereichen, wie zum Beispiel in der Mode, Kunst oder in Bezug auf die perfekten Körpermaße. Aber auch diese Ideale sind immer zeitlich gebunden und damit wechselhaft. Was heute »in« ist, ist morgen »out«. Schönheitsideale haben nichts Konstantes und sind zeitlich gebunden.

Das Schöne scheint zumindest aus dieser Erfahrung heraus letztlich doch ungreifbar zu sein. Statt deutlicher Objektivität begegnen wir der extremen Subjektivität. Das veranlasste Oscar Wilde zu der Äußerung, »die Schönheit hat so viele Bedeutungen wie der Mensch« (Wilde). Das Schöne entzieht sich somit scheinbar jeglicher Definition. Der berühmte Maler Salvador Dali behauptet sogar: »Die Ästhetik ist das größte irdische Mysterium.« (Dali)

Der naturwissenschaftliche Ansatz

Um eine Gesetzmäßigkeit oder ein Phänomen naturwissenschaftlich dingfest machen zu können, muss es genau beschrieben, wissenschaftlich ausgedrückt, in Form eines Begriffes definiert werden können. Die Wissenschaftler versuchten entgegen der allgemeinen Floskel »wahre Schönheit kommt von innen«, die Schönheit auf bestimmte äußere Proportionen und Formen zu reduzieren, um sie »greifbar« machen zu können. Dabei stellte sich die Frage: Ist Schönheit messbar? Gibt es bestimmte Charakteristika oder ein Maß, nach welchem man den Grad des Schönen bestimmen kann? Zur genaueren Aufklärung des Zusammenhangs von Schönheit und Ordnung wurde folgendes Experiment durchgeführt:

Der Wissenschaftler John Cleese stellte 15 Fotos von verschiedenen menschlichen Gesichtern zusammen (Bates & Cleese 2001). Diese Gesichter sollten von zahlreichen Menschen unterschiedlichster Nationalitäten nach dem Grad ihrer Schönheit und Attraktivität geordnet werden. Das vorrangige Ziel der Studie war es, das scheinbar subjektive Schönheitsempfinden jedes einzelnen Menschen auf objektive Parameter zu untersuchen. Das Ergebnis war beeindruckend: Erstaunlicherweise wählten knapp 90% der Versuchspersonen die gleiche Reihenfolge der Bilder! Mit anderen Worten: Es wurden immer die gleichen Gesichter von der Mehrzahl der Personen als schön oder auch als hässlich bewertet. Das scheinbar subjektive Schönheitsempfinden musste demnach eine objektive Grundlage haben. Offensichtlich ließ sich über Schönheit doch nicht immer streiten.

Was machte das eine Gesicht schön, warum wurde ein anderes dagegen als hässlich empfunden? Welches waren die »Schönheitskriterien«, nach denen die Personen die Gesichter ordneten? Genaue Vermessungen der unterschiedlichen Gesichter im Computer ergaben, dass vor allem die Gesichter einheitlich als schön empfunden wurden, die einen hohen Grad an Ordnung und Proportionalität aufwiesen. Gesichter mit eher unproportionalen Gesichtszügen und auffälligen Unregelmäßigkeiten innerhalb des Gesichts wurden mehrheitlich als hässlich betrachtet. Als besonders harmonisch galten insbesondere die Gesichter mit einem hohen Maß an Symmetrie. Je unsymmetrischer ein Gesicht aufgebaut war, desto unharmonischer und hässlicher wurde es eingestuft. Aus dieser und anderen wissenschaftlichen Studien (Peerlings & al. 1992, Rubenstein & al. 1999, Langlois & al. 2000, Rhodes & al. 2001) geht hervor, dass die Ergebnisse kaum Differenzen zwischen den Versuchspersonen verschiedener Geschlechter, Kulturen und Nationalitäten aufwiesen! Die Symmetrie als Ausdruck von Ordnung und Regelmäßigkeit scheint also eine elementare Rolle im Zusammenhang mit der Schönheit zu spielen.

Ähnliche Resultate finden sich in anderen Untersuchungen beispielsweise bei der Messung des »Beauty-Quotienten«. Dieser Index gilt als Maß für die Symmetrie von Gesichtern und kann mittels Computerberechnung objektiv bestimmt werden. Die Gesichter berühmter Models und allgemein anerkannter Schönheitsideale erzielten bei der Vermessung besonders hohe Werte. Das deutsche Topmodel Claudia Schiffer erreicht beispielsweise ca. 94% in der Beauty-Quotient-Skala.

Diese wissenschaftlichen Untersuchungen zeigen wie mittlerweile viele andere, dass der Begriff der Schönheit eng mit der Eigenschaft der Symmetrie in Zusammenhang steht (Gangestad & al. 1994, Grammer & Thornhill 1994). Die Symmetrie ist ein Ausdruck der Ordnung und Proportionalität der einzelnen Bestandteile und Elemente eines Ganzen, die wir mehrheitlich als schön und harmonisch empfinden. Die Spur zum Mysterium der Schönheit führt also erst einmal zum Begriff der Symmetrie.